(Forts.) Alltag in … Karima, Sudan

Alte und neue Zeiten           Neue Wege Nr. 9  September  2016 

Der Bahnhof von Karima liegt verlassen da, kein Mensch steht auf dem sandigen Perron, niemand sitzt auf der steinernen Bank. Lebendig scheinen einzig die unzähligen farbigen Plastiktaschen, die sich im Stacheldraht verfangen haben und im Wüstenwind rascheln. Und auch wenn die weissen lateinischen Buchstaben und die schön geschwungenen arabischen Schriftzeichen auf der schwarzen Tafel darauf beharren, dies sei die Bahnstation Karima, verrät der Zustand der Geleise, dass hier schon seit vielen Jahren kein Zug mehr eingefahren ist. Nur wenigen Leuten begegnen wir im kleinen Städtchen, die meisten machen in der heissen Nachmittagszeit Siesta. Die blauen, roten und grünen Rollläden der Geschäfte sind heruntergelassen, da und dort schlurft ein Mann in weisser Djellabija und Imma, dem traditionellen einfachen Gewand und dem Turban, unter den Arkaden der eingeschossigen Häuserzeilen entlang der Sandstrassen, ein paar Kinder lungern gelangweilt herum. Kein Gebetsruf ertönt von der Moschee, deren Minarett die Kleinstadt überragt. Auch in der islamischen Bank im einzigen dreistöckigen Gebäude der Kleinstadt ruhen alle Tätigkeiten. Nur beim Konserven- und Getränkeladen steht die Türe offen, die Kühlschränke beim Eingang surren und im Innern läuft ein Kleinfernsehgerät. Doch kein Besitzer, kein Kunde ist zu sehen. Wenn dann aber die Sonne untergeht, wird die Stadt wieder zum Leben erweckt werden, wird aus den Geschäften Musik ertönen, wird das Gemüse an den Ständen von ihren Besitzern mit Wasser bespritzt und im Licht der Gaslaternen schimmern und wird überall muntere Geschäftigkeit einkehren.

Der Weg zu Fuss zum Nil hinunter offenbart uns die Schönheit der Landschaft mit dem breiten, blauen Fluss, beidseits von einem grünen Band gesäumt, der seinen gemächlichen Lauf durch die sandfarbene, hügelige Wüste nimmt. Die landschaftliche Schönheit erhält allerdings einen sonderbaren Anstrich, als wir auf den Uferhügeln mehrere gestrandete, dreistöckige Nildampfer mit Kabinen und begehbaren Reling-Umgängen sehen, die einst einen regen Personenverkehr bewältigten, deren Namen aber bereits zur Unlesbarkeit verwittert sind. Ich setze mich ins Gras an der Uferböschung. Der berühmte sudanesische Schriftsteller Tayyib Salich kommt mir in den Sinn, der in seinen Werken Dorfgemeinschaften entlang des Nils mit viel Liebe und Humor beschrieben hat, wegen kritischer Bemerkungen über Traditionen aber auch angefeindet worden ist. In seiner Erzählung Die Daumpalme von Wad Hamid wehren sich Dorfbewohner gegen das Fällen einer alten Palme, obwohl dadurch Platz für eine elektrische Pumpe für die einfachere Wasserversorgung geschaffen würde. Moderne und traditionelle Lebensweisen stossen aufeinander.

Das ist auch hier so, erklärt Mohammed Abdullah, ein älterer Mann, der sich unweit von mir niedergesetzt hat. Er sei Anwalt in Khartum gewesen, jetzt aber Fischer hier. Doch seit dem Bau des Staudamms etwas weiter flussaufwärts sei es mit der Fischerei schwierig geworden. Den ungewöhnlichen Berufswechsel mag er nicht näher erklären, politische Gründe wären denkbar, das Regime duldet kaum Opposition. Der Merowe- oder Hamdab-Damm wurde 2009 fertiggestellt und ermöglichte dem Sudan die Verdoppelung der Elektrizitätsleistung, sowie die Bewässerung grösserer landwirtschaftlicher Anbauflächen als bisher. Er hat aber auch zahlreiche Familien von ihrem angestammten Lebensraum vertrieben. Die Sudanesische Regierung hat drei weitere Nil-Staudämme projektiert, alle bei den Nil-Katarakten, den Stromschnellen, gelegen, und beunruhigt damit Ägypten, dessen Bevölkerung vom Nilwasser abhängig ist. Das Gleiche trifft auch auf Äthiopien zu, das am Blauen Nil die grösste, Renaissance-Damm  genannte Talsperre baut. Den Hamdab-Staudamm möchte ich besichtigen, doch Ausländern und Journalisten ist das nicht erlaubt. Immerhin werde ich beim zweiten Versuch vom neuen Sicherheitschef aufs Freundlichste empfangen und mit Wasser und den unvergleichlichen Datteln, die in der ganzen Region kultiviert werden, bewirtet.

Mit dem Bau des Hamdab-Staudamms, der acht Jahre dauerte, waren weitere Infrastrukturvorhaben verbunden, die Asphaltierung der Piste durch die Wüste, eine Autobrücke über den Nil, ein Flughafen, sowie Spitäler. Den Kontrast der „neuen“ mit der „alten“ Welt erleben wir hautnah inmitten von Dromedaren, Rindern, Schafen und Ziegen auf dem Viehmarkt  der Ortschaft Tangasi, wo alle an dem seit erdenklichen Zeiten gleichen Handel Beteiligten heute über ein Handy verfügen. Eselskarren, Tuk-Tuks und neuste Geländefahrzeuge stehen nebeneinander. Der Kontrast wird am Abend noch markanter, als wir im Licht der untergehenden Sonne die Pyramiden von Karima besichtigen, Überreste der nubischen Hochkultur und Zivilisation im 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung.